
Der frühere Zauber von Burano ist selten geworden

Die drei Fassaden bilden, solange sie isoliert als Ausschnitt aus der Häuserzeile gesehen werden, mit dem vollen Gelb, dem kühlen, stark weißlichen Rosa auf dem hellen Pupurrot der Erdgeschosszone und dem bräunlichen Ocker einen ungewöhnlichen, aber keineswegs unverständlichen Farbklang mit prägnanter, freundlicher Ausstrahlung.

Der Farbklang verliert seine Anmut und Unbeschwertheit sobald das satte, das Haus hermetisch umhüllende Grün hinzukommt und sich unvermittelt vor das Gelb stellt.

Damit gibt es zwischen den Farben kein Wechselspiel mehr und nur noch die Dominanz des Grünen, gegen die sich das Gelb nicht wirklich behaupten kann, so wenig wie die feine Nuancierung des orangeroten Rosas. Das gemeine, bittere Grüngelb setzt die Folge isolierter, nur für sich stehender Farben ungut fort.
Henri Matisses Überlegungen zur Farbe „kürzlich im Laufe von Gesprächen“ festgehalten und 1945 publiziert durch Gaston Diehl*: „… was bei der Farbe am meisten zählt, das sind die Beziehungen. Dank dieser Beziehungen, und nur dank ihnen, kann ein Bild intensiv farbig sein, ohne dass es nötig wäre, wirklich Farbe aufzutragen. … Eine Lawine von Farben wirkt kraftlos. Die Farbe gewinnt ihre volle Ausdruckskraft erst dann, wenn sie organisiert ist, …“
Und Otto Modersohn äußerte sich ganz ähnlich zur Qualität von Farbigkeit: Die Kraft liege nicht in der Buntheit. Farbe allein mache „verschwommen, verblasen, unklar.“ Und genau das ist die Wirkung der staccatoartig gesetzten Hausfarben im Burano von heute. Nicht mehr das Haus, schon gar nicht das Ensemble sind wichtig, sondern einzig die subjektiv entschiedenen, isolierten, häufig laut schreienden Farben. Diese ziehen die ganze Aufmerksamkeit auf sich, lassen kaum anderes zur Geltung kommen und verstellen so den Blick auf das Ganze wie auf die Details, verhindern die Schönheit des Einfachen wahrnehmen zu können, aus dem Burano im Grunde besteht.

Technologisch falsch und ästhetisch unbefriedigend sind glänzende Beschichtungen auf körnigen Oberflächen, durch die die Erscheinung des rauhen, matten Materials gravierend verfälscht wird.

Auch fremd in einer alten, gewachsenen Stadt: Fensterläden, die wie industriell gefertigte, hochglanzpolierte Kunststoffelemente erscheinen.
Die „neuen“ Farben sind mit ihrer Intensität und Reinheit unangemessen und fremd zu den nicht perfekten Oberflächen der Putze sowie der Hölzer von Türen und Fensterläden, zu den nicht präzise geformten Ziegeln, den unregelmäßig angelegten grauen Bodenplatten und den nur zweckdienlich installierten Kabeln und Rohren an den Fassaden.
Zu alledem altern die „neuen“ Farben nicht so wie die Häuser altern in einem langsam fortschreitenden Prozess, sondern gehen zu schnell kaputt , weil sie nicht geeignet sind, auf dem häufig feuchten Mauerwerk angewendet zu werden und sie zudem mit ihrer begrenzten Lichtbeständigkeit frühzeitig ausbleichen und unansehnlich werden.

Überaltert

Erneuert, in einem guten Sinn

Klassische Farbigkeit

„Heutige“ Farbigkeit, nicht ungut

Die Ecke der Via Baldassare Galuppi zur Piazza hin, 2013, noch immer in „klassicher“ Farbigkeit

Noch einmal die Ecke mit einer Häuserzeile der Platzbebauung gegenüber der Kapelle der Heiligen Barbara in „klassischer“ Farbigkeit mit überwiegend roten Erdfarben (gemaltes Bild wohl um 1940, fotografiert in ein Schaufenster hinein)

Die Häuserzeile in „heutiger“, „neuer“ Farbigkeit. Fortschritt sieht anders aus.

Die Farben der Häuserzeile der 1940er-Jahre, schematisch

Heute

Die „heutigen“ Farben schematisch

Abgeschwächt

Noch einmal abgeschwächt, im Sinne der „klassischen“ Farbigkeit

Abschied
*aus: Henri Matisse: Über Kunst. 1982. Diogenes Zürich, S. 180
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