Farbenlehre

„Exerzitien“ von Rudolf Knubel: Der Munker-
White-Effekt in 56 Bildern

Green arsenic smeared on an egg-white cloth,
Crushed strawberries! Come, let us feast our eyes.

Grünes Arsen, auf ein eiweißes Tuch geschmiert,
Zerquetschte Erdbeeren! Kommt, laßt die Augen schlemmen.
– Ezra Pound, L‘ art, 1910

von Friedrich Schmuck / Klaus von Saalfeld

Exerzitien zwischen Bild und Auge

Rudolf Knubel sah vor einigen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Bild mit der Darstellung des sogenannten Munker-White-Effekts, der ihn so nachhaltig interessierte und inspirierte, dass daraus 2011 seine malerische Arbeit Exerzitien entstand. Der Titel erinnert an das gleichnamige, nachhaltig wirksame Werk des Ignatius von Loyola, an mönchische Disziplin, an Konzentration und Meditation, die der Künstler anwenden muss, wenn er, wie hier, ein solches physiologisches Phänomen wie den Munker-White-Effekt nicht einfach nur spektakulär zur Schau stellen, sondern das Phänomen durch die entworfene Bildstruktur und die komponierte Farbenthematik zu einem neuen, vielschichtigen und dynamischen Seherlebnis werden lassen möchte. Die Exerzitien waren nicht nur Exerzitien für Knubel beim Entwurf und bei der Realisierung seiner Bilder; sie sind in hohem Maß auch Exerzitien für den Betrachter, wenn er sich darauf einlässt, aktiv sehen zu wollen.

Der Munker-White-Effekt und der Simultankontrast

Grafik Den Effekt nur spektakulär zur Schau stellen

Den Effekt nur spektakulär zur Schau stellen

Grafik Der Munker-White-Effekt

Der Munker-White-Effekt

Grafik Der Simultankontrat

Der Simultankontrat

Der Munker-White-Effekt, für die bunten Farben von Hans Munker 1970 veröffentlicht, für die unbunten von Michael White 1981, wird auch, sehr treffend, als Farbassimilation bezeichnet. Ein ähnlicher Effekt war als Bezold-Brücke-Phänomen schon Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, denn er war 1874 von dem Physiker und Meteorologen Wilhelm von Bezold in seinem Buch Die Farbenlehre im Hinblick auf Kunst und Kunstgewerbe dargestellt worden. Josef Albers behandelt das Bezold-Brücke-Phänomen in seinem Werk Interaction of Color und zeigt ein anschauliches Beispiel.

Sowohl der Munker-White-Effekt als auch das Bezold-Brücke-Phänomen und der unten beschriebene Simultankontrast basieren auf dem Zusammenwirken von drei Farben ABC, deren eine Farbe C sowohl mit A als auch mit B in unmittelbare Nachbarschaft gebracht wird. Die Konstellation der Farben, die zu deren optischer Veränderung führt, und die Veränderung selbst sind bei Munker-White und Bezold-Brücke einerseits und dem Simultankontrast andererseits ganz unterschiedlich. Je nach Wahl der Qualitäten der drei Farben erscheinen bei allen drei Phänomenen mehr oder weniger deutlich vier Farben. Bei Albers heißt dieser Vorgang „drei Farben erscheinen wie vier“.

Beim Munker-White-Effekt und beim Bezold-Brücke-Phänomen, die sich am deutlichsten bei mehrfach wiederholten, kleinformatigen Farbelementen zeigen, nimmt die sich verändernde Farbe C Eigenschaften der jeweiligen Nachbarfarben an (Assimilation). Liegt die Farbe C zum Beispiel zwischen weißen Streifen, wird sie als heller und weißlicher wahrgenommen, zwischen schwarzen Streifen als dunkler und schwärzlicher, zwischen gelben als heller und gelblicher.
Die Farbassimilation nach Bezold-Brücke und Munker-White ist ein Sonderfall unseres Sehens, der wohl ausschließlich in konstruierten künstlichen Bildern auftritt.

Der Simultankontrast, auch kurz nur Kontrast genannt, zeigt sich an großflächigeren Farbelementen. Die häufigste Darstellungsform zeigt jeweils ein kleineres Rechteck in einem größeren. Hier verändern sich die kleineren Innenfarben in Richtung auf die Komplementärfarbe der Umfeldfarbe: Ist diese Schwarz, verändert sich die Innenfarbe Blau in Richtung Weiß – das Blau wird heller, weißlicher. Innerhalb eines weißen Umfelds erscheint das Blau dunkler, schwärzlicher. Der Simultankontrast wurde schon 1814 in der Farbenlehre des Malers Christian Leberecht Vogel knapp, aber genau beschrieben. 25 Jahre später hat Michel Eugène Chevreul, Chemiker und Direktor der Pariser Gobelinmanufaktur, den Kontrast und seine Bedeutung umfassend dargestellt und damit großen Einfluss auf Künstler von Seurat bis Delaunay ausgeübt. In dem, was wir sehen, sind überall Simultankontraste wirksam, ohne dass wir sie im Einzelnen wahrnehmen können. Sie dienen der Kontrastverstärkung, insbesondere an Kanten, und damit der besseren Erkennbarkeit der Gegenstandswelt. Bewusst und deutlich wahrgenommen wird der Kontrast jedoch nur in zweidimensionalen Konstruktionen mit reduzierter Formen-und Farbensprache.

Die Konstruktion des Einzelbildes

Grafik Schema des Einzelbilds

Das Schema des Einzelbildes

Grafik Das Schema der Komposition des gesamten Bildes

Das Schema der Komposition des gesamten Bildes


Die Grundfigur ist ein Quadrat von 90 x 90 cm. Im Innern des Quadrats ist ein fast quadratisches Feld von 17 (acht weißen und neun andersfarbigen) horizontalen, 3 cm hohen und 55 cm breiten Streifen angelegt. Mittig in diesem Rasterfeld stehen zwei quadratische Figuren übereinander – je 21 cm hoch und 23 cm breit –, die ebenfalls aus Streifen bestehen. Die Streifen des oberen Quadrats decken den Mittelteil der weißen Streifen des Rasterfelds ab, die Streifen des unteren Quadrats den mittleren Teil der andersfarbigen Streifen. Oben bleibt das Raster der farbigen Streifen, unten das der weißen. Zum Rand der Grundfigur hin begrenzt mit 3 cm Abstand zum Rand eine feine Graphit-Linie das Bild. So einfach und dabei aber auch hintergründig das Kompositionsprinzip und die Farbgebung der Exerzitien sind, so schwer zu fassen ist die Gesamtheit der formalen, räumlichen und farblichen Erscheinungen.

Das Gesamtbild der Exerzitien

In der Grundversion des Gesamtbildes, das aus 56 Einzelbildern besteht (Abb. S. 96), sind alle Elemente entsprechend weitgehend rationaler Entscheidungen konstruiert, so auch die Auswahl und Reihenfolge der Farben. Dabei haben die acht vertikalen Reihen der Einzelbilder jeweils gleiche Farben der Quadrate, die acht horizontalen jeweils gleiche Streifenfarben. Im Einzelbild werden die Konstruktion der Bildelemente und der Munker-White-Effekt verständlich, in den Serien der Kombinationen jeweils einer Farbe mit den sieben anderen werden die über den Effekt hinausgehenden unterschiedlichen Bildwirkungen anschaulich: die der unterschiedlichen Dimensionen, der Prägnanz von Figuren, der räumlichen Wirkungen und der Verteilung der Gewichte der Farben.

Das Farbmaterial

Die Bilder sind mit Pastellkreiden und mithilfe einer Metallschablone gemalt. Die Kreide lässt eine extrem matte Oberfläche entstehen. Auf der leicht geprägten Ingres-Struktur des Papiers wird mit dieser Art Kreide keine gleichmäßig dichte Bedeckung erzielt. Vielmehr scheint partiell das gebrochen weiße Papier des Untergrunds durch. Außerdem gibt es Spuren von Kreidepartikeln, die sich unter der Schablone sammeln und beim Abnehmen Ungenauigkeiten der Konturen ergeben. Knubel kommentiert das lapidar: „ … Arbeitsspuren. Ohne diese geht es nicht und diese ‚heureuse négligence‘ (Henry Matisse) nehme ich nicht nur in Kauf, sondern empfindesie als mir im hohen Maße entsprechend.“

Die Farben

Grafik Die acht Bildfarben

Die acht Bildfarben

Die Grundfarbe aller 56 Einzelbilder der Exerzitien ist ein gelbliches Weiß: die Farbe des verwendeten Papiers „Natural Line“ von Hahnemühle mit Ingres-Struktur, 120 g/m². Die acht Bildfarben, deren jede mit den sieben anderen kombiniert wird, sind in der Reihenfolge der Komposition des Gesamtbildes: Kupfergrün, Beinschwarz, Siena natur, Rot, Blaugrau, Magentarot, Kadmiumgelb, Stahlblau.

Das Grün stammt aus der Familie der kupfergrünen Farben wie das hochgiftige Schweinfurter Grün, das deshalb auch als Giftgrün bezeichnet wird und an dem Napoleon zu Tode gekommen sein soll. Ähnlich sind auch das Smaragdgrün und das Spangrün. Sie alle sind blaustichig und kühl, knapp neben dem empfindungsgemäß reinen Grün, wodurch sich eine leichte visuelle Irritation einstellt. Im Klassizismus war das Grün eine beliebte Farbe in den Wohnzimmern, und es war die Wandfarbe eines Patientenraumes in einer psychiatrischen Klinik in Burundi, wie das Bild aus einer bekannten Fotosequenz von José Cendón zeigt.

Das nicht tiefdunkle Schwarz hat einen Stich zum Bräunlichen, womit es leicht warmtonig ist. Siena natur, auch Sienagelb genannt, der beste Ocker aus der Provinz Siena, strahlt als Erdfarbe eine natürliche Materialität aus, ist feurig und trocken. Das Rot hat einen geringen Anteil (10 Prozent) von Gelb. Das Grau ist bläulich, kühl und von mittlerer Helligkeit. Das Magentarot oder auch Purpurrot, die wegen der geringen Lichtbeständigkeit meist ausgeblichene Firmenfarbe der Telekom, signalisiert wie ein weiß aufgehelltes Prälatenrot vergänglichen Machtanspruch. In nordrhein-westfälischen Haftanstalten wurde getestet, ob die Zellen für renitente Gefangene nicht in einem dem Magentarot ähnlichen Pink, dem sogenannten „Cool Down Pink“, gestrichen werden sollten, so wie schon seit längerer Zeit in der Schweiz und in den USA („Baker-Miller-Pink“). In Dortmund wurde der Versuch abgebrochen. Das Kadmiumgelb ist ein wenig rötlich und damit trotz seiner großen Intensität warmtonig. Das neutrale (weder rötliche noch grünliche) Stahlblau ist stark vergraut. Blau ist die Farbe, dienicht rein und intensiv in der Farbpalette der Exerzitien enthalten ist. Das bedeutet, dass die Palette bei den stark bunten Farben ein Übergewicht bei Gelb, Ocker, Rot und Grün besitzt. Ihnen stehen die stark vergrauten Vertreter des Blaus gegenüber: das Blaugrau und das Stahlblau.

Die Verwandtschaften und Gruppenbildungen der Farben

Grün hat als bunte Farbe keine unmittelbare Verwandtschaft zu einer anderen bunten Farbe. Jedoch hat Grün als „bunte Neutralität“ (Heimendahl) eine gewisse Nähe zum Grau und als Komplementär- und Nachbildfarbe zum Magentarot eine unmittelbar wirksame Gegensätzlichkeit. Rot und Magentarot sind verwandt, aber die eine Farbe ist gelblich, die andere bläulich-weißlich und dadurch auf unser Farbempfinden gegensätzlich und dissonant wirkend. Gelb und Siena natur sind nahe verwandt, unterschieden durch die Schwärzlichkeit, die das Siena, wenn auch verhalten, an das Schwarz anbindet, aber auch unterschieden durch die geringere Rötlichkeit im Gelb. Blaugrau und Stahlblau haben die Bläulichkeit und die geringe Buntheit gemeinsam. Die von Knubel entworfene Bildfigur lässt in Kombination mit der Palette von acht Farben ein weites Spektrum an unterschiedlichsten Erscheinungen der Bildelemente entstehen: Streifenraster, Randstreifenraster, oberes und unteres Quadrat.

Wirkungen der Farben in den Exerzitien

Die Helligkeiten beziehungsweise Dunkelheiten der acht Bildfarben bestimmen ganz wesentlich die Prägnanz der Bildelemente und die Bildung von Figuren, somit die charakteristischen Merkmale der einzelnen Bilder (Abb. xx).

Schwarz als Streifenraster (Abb. xx) bildet ein konstant stabiles, eindeutiges Gerüst, das auch die Merkmale der anderen Farben klar zum Ausdruck kommen lässt, ohne selbst von den anderen wesentlich beeinflusst zu werden, weder formal noch in seiner Farbigkeit. Sogar das zwischen helleren Farben an mangelnder Buntheit schwächelnde Stahlblau kann zwischen beziehungsweise hinter dem schwarzen Streifenraster seine sehr wohl vorhandene Farbigkeit und Buntheit zeigen (Abb. xx). Allerdings verliert sich dabei die Prägnanz des unteren Quadrats, dessen Farbe mit der des Rasters zusammenwächst und das Raster komplettiert, dort, wo es eigentlich durch das Quadrat zerteilt ist. Je dunkler die Farben der Quadrate sind, desto stärker bilden sich im Zusammenspiel mit dunklen Streifen die oberen Quadrate aus und erhalten eine Kopflastigkeit, die das Gleichgewicht des Bildes schwächt beziehungsweise auflöst (Abb. xx).

Bei mitteldunklen und dunklen farbstarken Streifenrastern scheinen die oberen – zum Beispiel roten – Quadrate hinter dem Raster als Flächen zu liegen, wenn sie deutlich heller oder deutlich dunkler sind als die Rasterfarbe (Abb. xx). Bei hellen Quadraten und mitteldunklen oder dunklen Rasterfarben bildet sich eine Figur heraus, die als Zeichen eines Tors gesehen werden kann oder als umgekehrtes U (Abb. xx). Wenn die Quadratfarbedunkel ist und das Linienraster hell, wie zum Beispiel bei Gelb, dann nehmen die beiden Quadrate die Form eines stehenden Rechtecks an (Abb. xx ).

Die unteren Quadrate scheinen, besonders wenn sie in hellen Farben angelegt sind, wie mit einer weißlichen halbtransparenten Folie überzogen zu sein. Dabei werden sie mit zunehmender Helligkeit zu einer immer autonomeren Fläche, bis die Quadratfarbe schließlich beim Gelb zu einem Quadrat wird, das in einer Ebene vor den Streifen zu liegen scheint (Abb. xx).

Knubel konstruiert sein Bild sehr streng, allerdings auch unter Berücksichtigung empfindungsgemäßer Einschätzungen und Urteile. Die möglichen Farbigkeiten spielt er systematisch durch. Es geht ihm aber weder um die genaue Konstruktion noch um das strenge System an sich. Beide, Konstruktion und System, dienen ihm dazu, möglichen bildnerischen Reichtum sichtbar und überschaubar zu machen. Er unterlässt es, die Konstruktion durch präzise Malerei zu betonen; vielmehr lässt er einen lockeren Farbauftrag (Quelle: xx) und unpräzise Begrenzungen der Farbfiguren zu und gewinnt damit ein Stück malerischer Qualität innerhalb eines konkreten Bildkonzeptes.

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Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Ausstellungskatalog Rudolf Knubel: „Mit den Augen denken“, Retrospektive (Werke von 1962-2012: Skulpturen, Malerei, Arbeiten auf Papier. Herausgeber: Burkhard Leismann / Susanne Buckesfeld.
Erschienen im Verlag Kettler, Dortmund. ISBN 978-3-86206-615-5

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Weitere Artikel zur Farbenlehre:

Anmerkungen zur Farbenlehre des Christian Leberecht Vogel